Aus dem Leben eines Diplomaten: Ehemaliger Staatssekretär Jürgen Chrobog referiert bei Seniorenunion über sein bewegtes Leben
Werbung

(Bückeburg) Mit freundlicher Unterstützung von Dr. Dieter Kindermann war es der Bückeburger Seniorenunion gelungen, den langjährigen ehemaligen Staatssekretär Jürgen Chrobog für einen Vortrag zu gewinnen.

Vier Außenminister und zahlreiche diplomatische Verwicklungen hat Chrobog erlebt und wurde sogar einst mit seiner gesamten Familie im Jemen entführt. Unter dem Titel „Ein Leben für die Politik – Betrachtungen eines Diplomaten“ ließ er die Gäste an seinen Erlebnissen teilhaben.

Bei so einem Lebenslauf schien es kaum verwunderlich, dass der Le-Theule Saal zum einen voll besetzt war, zum anderen die Gäste wie gebannt den Erzählungen des Diplomaten folgten. Kindermann kündigte den Gast, der neben den Außenministern Scheel, Genscher, Kinkel und Fischer arbeitete, als jemanden mit „einem unschätzbaren Wert an Lebenserinnerungen, dessen Lebenswerk eine Richtschnur ist für alle, die Verantwortung für das Land übernehmen wollen“.

Jürgen Chrobog (li.), ehemaliger Staatssekretär im Auswärtigen Amt, blickt auf seine Erfahrungen mit vier Außenministern zurück und stellt Prognosen für die künftige Politik.

Von einer Kindheit voller Entbehrungen im Nachkriegsdeutschland bis hin zu seinem Posten im Auswärtigen Amt und später in der deutschen Botschaft in Washington, USA – die Ausführungen Chrobogs fesselten das Publikum. Bewusst las Chrobog dabei nicht aus seinem Buch „Ein Leben für die Politik“ vor, sondern erzählte aus seinen Erinnerungen und erfreute die Zuhörer dabei auch mit der einen oder anderen kuriosen Anekdote.

Gefährliche Zeit

„Unsere Generation hat danach keine großen Kriege in der EU, sondern eine ungewöhnlich friedliche Zeit erlebt. Ich befürchte jedoch, dass es für unsere Kinder und Enkel schwierig wird, denn wir leben in einer außerordentlich gefährlichen Zeit“. Rückblickend auf acht Jahrzehnte seines Lebens, seien viele prägende Dinge „hängen geblieben“. „Ein limitierter Lebensentwurf in der Nachkriegszeit begrenzte auch das Denken“, konstatiert Chrobog.

Werbung

Den Ausführungen des ehemaligen Diplomaten lauschen rund 70 Mitglieder und Gäste der Seniorenunion im Le-Theule-Saal.

Erst in der Schulzeit und im Studium erlebte er erstmals eine erfüllende Freiheit. Nach Abschluss des Studiums zum Juristen bewarb er sich beim Auswärtigen Amt und wurden als einer von 42 aus mehr als 2000 Bewerbern ausgewählt. Außenminister Scheel sei dieser Zeit stark sicherheitspolitisch tätig gewesen, seine Ostpolitik mit Russland war der Beginn aller weiteren erfolgreichen Entwicklungen. Kinkel hingegen sei „weniger Deutscher, als Rheinländer gewesen“, schmunzelt der ehemalige Staatssekretär.

Mit Putin „damals gut zurechtgekommen“

Als persönlicher Referent Genschers seien Reisen nach Brüssel und in die gesamte EU an der Tagesordnung gewesen. „Die Probleme, die er lösen wollte, sind ähnlich denjenigen, wie wir heute lösen müssen – nur mit weniger Krieg“, konstatiert Chrobog. Genscher habe am meisten für die Wiedervereinigung getan, „ohne den Beitrag Kohls schmälern zu wollen. Es war eine spannende Zeit. Wir wollten alle die Wiedervereinigung und die Haupthelfer waren nicht die USA, sondern Russland. Die guten Beziehungen zu Gorbatschow waren von Wert“. Auch Putin habe Chrobog persönlich getroffen. „Die Beziehungen zu Moskau waren damals, zu seiner Rede 2002 im Bundestag, nicht schlecht. Die Veränderungen seit seiner zweiten Amtszeit sind hingegen kaum nachvollziehbar. Damals sind wir gut zurechtgekommen“, schlussfolgert Chrobog.
Als Botschafter in Washington habe er die Amerikaner als sympathische Menschen erlebt, sieht jedoch heute die Spaltung der Gesellschaft und die Ideologie im Land kritisch. „Die Lage hat sich verschlechtert“, so Chrobogs Urteil. Die Zeit als Staatssekretär unter Joschka Fischer, „einem Mann, dem man glauben konnte“, war von seriöser Zusammenarbeit geprägt.

Entführt und festgehalten

Anschließend hat Chrobog die BMW-Stiftung in München geleitet. 2005, bei einer privaten Reise durch den Jemen, wurde er und seine gesamte Familie entführt und mehrere Tage festgehalten, um die Freilassung Gefangener zu erzwingen. „Eine lehrreiche und interkulturelle Zeit – aber meine gesamte Familie bewertet dies unterschiedlich“, so die nüchterne Zusammenfassung des Diplomaten. „Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie uns umbringen wollten, aber meine Frau und Kinder sehen das anders“.

Seniorenunion Ruth Harmening (mi.) und Dieter Kindermann (re.) danken Jürgen Chrobog für den spannenden Vortrag.

Viel politischer Verstand für die Zukunft

Würde Genscher noch leben, nähme er noch immer großen Einfluss auf die Politik, ist sich Chrobog sicher. Für den Krieg in der Ukraine urteilt er: „Russland darf nicht gewinnen. China wird sonst sofort in Taiwan einmarschieren und dagegen trauen sich noch weniger, Krieg zu führen“. Dennoch sieht auch er das Thema der Lieferung schwerer Waffen differenziert: „Scholz hat recht, dass er die Politik zu ruhig führt. Dies geht nur im Verbund, anders wären wir das erste Ziel eines Atomschlags“.

Ein Sturz Putin hingegen bringe die Gefahr, dass Militärs und Rechtsextreme an die Macht kommen würden. „Wir sind zwischen übel und ganz übel und können nur auf Friedensverhandlungen hoffen. Den Donbass können wir Putin dennoch nicht schenken – es braucht viel politischen Verstand in der Zukunft“, so seine Prognose. Im Anschluss nahm sich Chrobog noch Zeit, Fragen zu beantworten und Bücher zu signieren. (Text & Foto: nh)

Werbung