
(Bückeburg) Die Europäische Union erlebt eine Zeit des Umbruchs – anhaltende Konflikte zeigen die Notwendigkeit einer neuen, geeinten Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf. EU-Parlament-Abgeordneter David McAllister (CDU) sprach aus diesem Anlass auf Einladung der Gesellschaft für Sicherheitspolitik zu rund 90 Gästen in der Jägerkaserne über gemeinsame Strategien und anstehende Aufgaben, um die Wehrhaftigkeit der EU auf ein neues Level zu heben.
„Aktuell ist viel los im EU-Parlament“, stellt McAllister fest. Neben der Migrationspolitik mache die dramatische Lage in der Ukraine und in Nahost das Thema Sicherheitspolitik vorrangig. „Ich bin mir sicher, dass über die Geschehnisse der vergangenen Jahre unsere Enkelkinder in den Geschichtsbüchern lesen werden. Die Kriegsgeschichte hat einen neuen Abschnitt erhalten und alle bisher geltenden Regeln und Prinzipien auf den Kopf gestellt“, konstatiert der EU-Abgeordnete und stellt zugleich fest: „Dies hat die europäische Sicherheitspolitik dysfunktional gemacht“.
Beispielsweise sei die Wirksamkeit des Europäischen Rats nach dem Austritt Russlands und Belarus‘ infrage gestellt – die übrigen Staaten hier jedoch seien sich einig, dass ein Weg zum Frieden in der Ukraine gefunden werden müsse. „Dazu müssen aber beide Seiten zum Schluss kommen, dass mit Waffen nichts mehr zu bewirken ist“, setzt McAllister voraus. Solange dies nicht der Fall sei, werde die EU die Ukraine auch weiterhin unterstützen. „Es geht um die Zukunft unserer europäischen Friedensarchitektur und das künftige Zusammenleben auf diesem Kontinent“, macht er deutlich. „Wenn Putin gewinnt, hat das Folgen für die ganze Welt, denn dann gilt schlicht das Recht des Stärkeren – und das ist besonders schlecht für die Kleinen“. Weitere Sanktionen würden vorbereitet, um Schlupflöcher zu schließen, jedoch sei dieses Mittel inzwischen „ausgelutscht.“

„Europa ist ein militärischer Wurm“
Durch diese Entwicklungen habe die Außen- und Sicherheitspolitik Europas einen neuen Stellenwert bekommen. Drei Dimensionen gilt es zu beachten: Einzelne Staaten mit verbündeten Partnern, die europäischen NATO-Staaten im Verbund als auch die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Im Zuge des Bosnien-Krieges Anfang der 1990er Jahre sei erstmals deutlich geworden, was der damalige belgische Außenminister Mark Eysken in einem viel wiederholten Zitat ausdrückte: „Europa ist ein wirtschaftlicher Riese, ein politischer Zwerg und ein militärischer Wurm“. „Der Konflikt hat die bittere Erkenntnis hervorgebracht: Wir können es nicht ohne die Amerikaner“, sagt auch McAllister heute. Zwar habe es seitdem viele Besserungen gegeben, aber auch der Ausgang des Afghanistan-Konfliktes habe verdeutlicht, dass die europäischen Kräfte noch immer ohne die USA nicht verteidigungsfähig sind. „Der überraschende Rückzug der Amerikaner hat zur Erkenntnis geführt: Wir können es noch immer nicht alleine“, blickt der Abgeordnete auf diese Episode misslungener Sicherheitspolitik zurück.
Mehr für die eigene Verteidigung tun
In Anbetracht der bevorstehenden US-Wahlen müsse sich die EU auf erneute Verhandlungen einstellen. „Die Botschaft – ob ruppig von Trump oder diplomatisch von Harris – wird klar sein: Ihr müsst mehr für eure Verteidigung tun!“, stellt McAllister in Aussicht. Denn de facto sind die EU und ihre Mitgliedsstaaten noch immer im Kriegsfall nicht voll verteidigungsfähig – jedenfalls nicht ohne die starken, transatlantischen Partner.
„Wir müssen unsere Ziele und Aufgaben anpassen, unsere Resilienz steigern und konfliktfähiger werden – nach innen und außen“. Doch noch immer würden innerhalb der EU notwendige Maßnahmen und Beschlüsse von Einzelnen blockiert – „das ist vor allen Dingen in Budapest sehr bekannt. Der ungarische Außenminister bekommt zumindest von mir keine Weihnachtskarte“, macht McAllister rauf einen der größten Blockierer aufmerksam.

Strategischer Kompass zeigt neue Richtung auf
Eine geeinte europäische Verteidigungspolitik leide zudem oft unter unterschiedlichen Traditionen und Verfahrensfragen – Abhilfe soll hier der 2020 von der EU aufgestellte Strategische Kompass liefern. 27 Regierungschefs haben hier ihre Unterschrift daruntergesetzt, 81 konkrete Maßnahmen wurden formuliert und sollen bis 2030 umgesetzt werden. Dafür fand erstmalig eine 360-Grad-Erfassung aller Bedrohungen statt, niedergeschrieben in einem Dokument, „in dem sich alle wiederfinden“. Erstmals wird auch ein Verteidigungskommissar eingesetzt, denn „Sicherheitspolitik lässt sich nicht im Nebenjob lösen“. Die „Defense Agency“ ist den Außenministern unterstellt und soll eine europäische Verteidigungsunion begründen. Dabei wurden drei vorrangige Aufgaben ausgemacht: Die Einsatzbereitschaft Europas soll gestärkt werden in Form eigener europäischer Streitkräfte, die keinesfalls im Wettbewerb zur NATO stehen. Zudem sollen mehr Investitionen in industrielle Kapazitäten erfolgen, die Streitkräfte gestärkt und entwickelt, mehr Rüstungsgüter gemeinsam erforscht, erprobt und beschafft werden. „Einen Konkurrenzkampf gilt es zu vermeiden. Gemeinsam erzielen wir bessere Preise, Güter und Lieferzeiten“. Würden die Investitionen zudem besser gesteuert werden, könne dies auch die Wirtschaft innerhalb der EU stärken. Aktuell würden nur 18 Prozent der Rüstungsgüter gemeinsam erworben, bis 2035 soll der Anteil auf 60 Prozent gesteigert werden.

Transatlantisch und zugleich europäisch-orientiert
Die dritte Kernaufgabe ist die weitere Festigung der Partnerschaften, etwa zur NATO. Sei diese Beziehung früher von „freundlichem Desinteresse“ geprägt, wären nunmehr zahlreiche gemeinsame Prozesse im Gang. Zwar haben beide Organisationen – die NATO als militärisch-politisches Bündnis und die EU als zivile Organisation mit militärischem Arm und gesetzgebenden Befugnissen – nicht immer deckungsgleiche Auffassungen, dennoch hoffe McAllister, dass unter dem neuen Generalsekretär Rutte die Partnerschaft weiter reifen kann. „Wir sollen unsere europäischen Aktivitäten niemals gegen die NATO richten, sondern deren militärische Fähigkeiten mit unseren Kompetenzen ergänzen und weiter transatlantisch und zugleich europäisch-orientiert bleiben“, ist sich McAllister sicher.
Im Anschluss entwickelte sich mit den Zuhörern und dem Europa-Abgeordneten eine spannende Diskussionsrunde, die zudem die vielseitigen, sicherheitspolitischen Sorgen offenbarte, wie die russische Aggression gegenüber Europa, europäische Konsequenzen, falls die USA aus dem Atomschirm aussteigen, die potentielle Bedrohung aus China, die Notwendigkeit einer breiteren Afrika-Politik und das weitere Vorgehen im Ukraine-Krieg.
(Text & Fotos: nh)