Der Riss im Leben: Patient aus Stadthagen überlebt seltenes „Boerhaave Syndrom“
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(Stadthagen/Minden) Seine Erinnerungen sind verschwommen. Wie er ins Krankenhaus gekommen ist und was dann alles passiert ist, weiß Volker Buddensiek nicht mehr.

Dass er in Lebensgefahr schwebte, ahnte er zu dem Zeitpunkt nicht. In seinem Körper breitete sich eine Blutvergiftung in Folge eines Risses in der Speiseröhre aus. Ein dramatischer Zustand, den nur die wenigsten Menschen überleben.

Es war der 8. Januar 2022. Volker Buddensiek musste sich zuhause plötzlich mehrfach übergeben. Auch mit Blutbeimengung. Und klagte über starke Oberbauchschmerzen. Der Stadthäger wurde mit einem Krankenwagen ins Klinikum Schaumburg gebracht. Dort wurden zahlreiche Untersuchungen durchgeführt und auch eine Computertomographie. Bald wurde als Ursache seiner Beschwerden ein „Loch“ in der unteren Speiseröhre festgestellt. Eine höchst lebensbedrohende Situation. „Denn durch die Öffnung gelangen Bakterien in den sogenannten Zwischenlungenraum, ein Raum im Körper, wo direkt das Herz, die Lunge und große Gefäße wie die Aorta sowie Lungenarterien und Lungenvenen angrenzen. So kommt es zwangsläufig binnen weniger Stunden zu einer Blutvergiftung“, erklärt Dr. Ulrich Fetzner, Geschäftsführender Oberarzt in der Klinik für Allgemeinchirurgie am Johannes Wesling Klinikum. Erst stellen die Organe ihre Tätigkeit ein, dann kommt es unbehandelt binnen weniger Tage zum Tod.

Dr. Ulrich Fetzner bei der Untersuchung.

Der druckbedingte – zum Beispiel durch heftiges Erbrechen verursachte – Riss der unteren Speiseröhre wird auch als „Boerhaave Syndrom“ bezeichnet. Der weitere Verlauf hängt davon ab, wie schnell das Krankheitsbild diagnostiziert und behandelt wird. Wird die Erkrankung später als nach 48 Stunden diagnostiziert oder erfolgt die Therapie nicht optimal, liegt die Sterblichkeit bei über 90 Prozent. Unbehandelt kann man die Erkrankung nicht überleben.

„Die Ähnlichkeiten der Symptome zu anderen Krankheitsbildern, wie etwa einem Herzinfarkt oder einem Aneurysma sind groß und durch Fehldiagnosen kann lebensrettende Zeit verloren gehen“, erläutert Dr. Ulrich Fetzner.

Dr. Ulrich Fetzner mit seinem Patienten und dessen Frau.

Am Klinikum Schaumburg wurde jedoch richtig diagnostiziert und folgerichtig gehandelt. Die Klinik wandte sich an die chirurgische Abteilung des Universitätsklinikums Minden. Dr. Ulrich Fetzner erklärt: „Denn die Behandlung von Rissen in der Speiseröhre kann nur in maximalversorgenden Kliniken erfolgen, welche auf die interdisziplinäre Behandlung von Speiseröhrenerkrankungen spezialisiert sind. Im Speiseröhrenzentrum in Minden werden jährlich weit über 50 Operationen an der Speiseröhre – allerdings meist aufgrund von Krebserkrankungen – durchgeführt und das Zentrum gehört damit zu den führenden Kliniken in Deutschland. Diese Expertise hilft, um auch bei den sehr seltenen Verletzungen – wie dem ‚Boerhaave Syndrom‘ – zu wissen, was man tut.“

Aus diesem Grund wurde Volker Buddensiek noch am Abend des 10. Januars in das Universitätsklinikum verlegt und sofort operiert. In einer über vierstündigen Operation wurde ihm über einen Zugang zum Brust- und Bauchraum die Speiseröhre entfernt und am Hals ausgeleitet. Die Körperhöhlen wurden gespült, um die Blutvergiftung einzudämmen. In den Dünndarm wurde ihm eine Sonde gelegt, um ihn die kommenden Monate ernähren zu können.

„Nach der großen OP lag ich erstmal im Koma und dann noch mehrere Wochen auf der Intensivstation. Ich hatte quasi keine Speiseröhre mehr, einen Beutel am Hals für den Speichel, konnte weder trinken noch essen und auch nicht sprechen. Aber ich war einfach nur froh, überlebt zu haben. Meine Frau und meine Söhne haben mich jeden Tag besucht und neben meinem Bett ganz viele Familienfotos aufgehängt. Das hat mir Kraft gegeben, mir Lebensmut geschenkt“, erinnert sich Volker Buddensiek.

Volker Buddensiek aus Stadthagen hat das seltene „Boerhaave Syndrom“ überlebt und zwei große Operationen 2022 überstanden.

Fast neun Monate ernährte sich der 67-Jährige ausschließlich über die Dünndarm-Sonde, die sein Leben bestimmte: „Über die Sonde habe ich Wasser und sogenannte Astronautennahrung erhalten“. Wenn seine Frau zuhause gekocht hat, hat er beim Zubereiten geholfen, konnte aber nicht mitessen. Sich auswärts mit Freunden verabreden, hat er sich die ersten Monate nicht getraut. „Irgendwann ging das aber alles und ich habe dann meine Flüssigkeiten mitgenommen, ich habe das Selbstmitleid schnell abgelegt und nach vorne geschaut. Ich wollte unbedingt wieder gesund werden. Für mich und meine Familie“, erzählt der Familienvater.

Was Volker Buddensiek Kraft schenkte: die Hoffnung nach einer zweiten Operation neue Lebensqualität zu gewinnen. Und im September 2022 war es dann soweit. In einem zweiten, nochmals fast fünfstündigen Eingriff wurde ihm seine „Nahrungspassage“ wiederhergestellt. „Wir haben in dieser aufwändigen Operation den Magen zum Hals hochgezogen und einen Anschluss der Restspeiseröhre an den zu einer ‚Ersatzspeiseröhre‘ umgeformten Magen hergestellt. Der Patient hat noch eine Restspeiseröhre von etwa zehn Zentimetern, dann beginnt direkt sein Magen. Er kann aber wieder feste Nahrung zu sich nehmen und trinken. Aber natürlich deutlich kleinere Mengen als vorher“, erklärt der behandelnde Arzt Dr. Ulrich Fetzner.

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Etwa ein bis zwei Patienten werden pro Jahr mit dem „Boerhaave Syndrom“ am Universitätsklinikum Minden behandelt. „Dass in einer zweiten Operation die Rekonstruktion der Nahrungspassage wieder möglich war, grenzt allgemein meist schon an ein Wunder“, so der Oberarzt.

Nach nach der zweiten großen Operation musste Volker Buddensiek zunächst wieder Schlucken und Sprechen lernen: „Dank der tollen Logopädinnen am Johannes Wesling Klinikum habe ich das aber schnell erlernt. Ich bin den Pflegern, Ärzten und allen anderen hier im Haus sehr dankbar. Ich habe mich zu jeder Zeit unglaublich gut aufgehoben gefühlt.“

Der 67-jährige Stadthäger musste erst lernen mit seinem Schicksal zu leben, „aber das ist jetzt meine Geschichte, meine Narben erzählen, was ich im vergangenen Jahr alles überstanden habe“. Auch für seine Frau Dorothee war das vergangene Jahr alles andere als einfach, die ständige Sorge um ihren Mann hat sie fast zerrissen: „Aber nun stehen wir hier gemeinsam und schauen zuversichtlich in die Zukunft.“ Das Ehepaar möchte endlich wieder reisen, es ist ihre große Leidenschaft. „Wir haben für April einen Familienurlaub mit unseren Söhnen und ihren Partnerinnen geplant. Darauf freuen wir uns schon sehr“, erzählen Volker und Dorothee Buddensiek.

Der Familienvater hat einen Riss in der Speiseröhre überlebt. Und den Riss in seinem Leben auch.

(Quelle & Fotos: Mühlenkreiskliniken)

Volker und Dorothee Buddensiek aus Stadthagen halten auch in schweren Zeiten zusammen. Sie freuen sich wieder gemeinsam zu verreisen.

Das Boerhaave Syndrom

Als Boerhaave-Syndrom bezeichnet man ein extrem seltenes Krankheitsbild, bei welchem eine Zerberstung aller Wandschichten der unteren Speiseröhre auftritt. Dies kann ausgelöst werden durch heftigstes Erbrechen nach großen Mahlzeiten.

Es wurde 1724 erstmals durch den niederländischen Arzt, Botaniker und Chemiker Hermann Boerhaave beschrieben. Er beobachtete, wie der holländische Admiral van Wassenaer bei einem „Fressgelage“ mit selbst herbeigeführtem Erbrechen zusammenbrach und verstarb. Er obduzierte den Admiral persönlich, entdeckte den Riss in der Speiseröhre und verstand so die Zusammenhänge. Heute sind weitere Situationen bekannt, bei denen es auch zu einem Riss in der Speiseröhre kommen kann. Beispielsweise das zu schnelle Auftauchen beim Tauchsport mit Ausdehnung der Gasblase im Magen (sog. Barotrauma) oder die Durchspießung der Speiseröhre bei medizinischen Maßnahmen (Magenspiegelung, Herz-Ultraschall über die Speiseröhre usw.).

Die Sterblichkeit am Boerhaave Syndrom liegt heute selbst bei optimaler Diagnostik und Therapie in spezialisierten Zentren bei über 30 Prozent. Wird die Erkrankung später als 48 Stunden diagnostiziert oder erfolgt die Therapie nicht optimal liegt die Sterblichkeit bei über 90 Prozent. Der Riss in der Speiseröhre liegt meist in deren unterem Drittel. Symptome eines Risses der Speiseröhre sind ein „Vernichtungsschmerz“ hinter dem Brustbein nach einem massiven Erbrechen.

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