Gefährliche Mission zwischen Tod und Elend: 40-Tonner bringt Interhelp-Überlebenspakete ins Katastrophengebiet
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(Kahramamaras) An der Trabzon Straße/Ecke Garajlar beobachtet Recep einen grünen Kettenbagger, mit dem die Trümmer eines mehrstöckigen Wohnhauses beseitigt werden.

Der Blick des 60-Jährigen wirkt leer und traurig. Als die Erde am frühen Morgen des 6. Februar bebte, hat der Mann alles verloren, was ihm lieb war und was er besaß: seine Frau, seine vier Kinder und seine Wohnung. Recep hat Hunger und Durst. Er ist traumatisiert. Seit 40 Tagen irrt Recep durch die Straßen von Kahramamaras. Nachts schläft er unter freiem Himmel. Nicht einmal ein Zelt habe er, sagt er. Recep, der über sich selbst sagt, dass er vor ein paar Wochen noch ein glücklicher Familienvater war, versucht nun, irgendwie und irgendwo zu überleben. Seine Augen füllen sich mit Tränen, als er uns seine Geschichte erzählt. „Wofür lohnt es sich noch zu leben?“ Diese Frage stellt er in den Raum und macht dazu eine Handbewegung – so, als wolle er sich die Kehle durchschneiden. Die Antwort schiebt er gleich hinterher: „Für mich gibt es nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnen würde.“ Die ehrenamtliche Interhelperin Dr. Özlem Stange-Budumlu kann ihm seinen Schmerz nicht nehmen, aber die Ärztin kann etwas dagegen tun, dass Recep nicht länger Hunger und Durst leiden muss.

Ein Stück weiter oben, an der Garajlar Straße, steigt Staub auf. Vor einem riesigen Berg Schutt sitzen zwei Juweliere. Sie schauen zu, wie ein Abrissbagger das ehemalige Kaczanci Hotel abträgt. „Das Gebäude ist einfach umgekippt“, sagt einer der Männer. 80 Menschen seien allein in diesem mehrstöckigen Haus gestorben. „Einige Leichen haben wir vor und in unserem Laden gefunden“, erzählt er. Es habe am 6. Februar an dieser Stelle Menschen geregnet. Furchtbar sei das, ja: grauenhaft. „Erst heute Morgen haben sie wieder die sterblichen Überreste eines Mannes gefunden. Nach dem Vermissten war vier Wochen lang gesucht worden.“ Polizisten haben einige Stellen mit gelbem Flatterband markiert. „Polis“ steht drauf.

Unterhalb des Baggers kraxelt ein Mann über den Berg des Grauens. Es ist ein Kriminalbeamter, der nach Toten sucht – und nach verwesenden Leichenteilen. Die Juweliere haben ihre Existenzgrundlage verloren, aber überlebt. Dafür danken sie Gott. Die Männer wollen sich nicht entmutigen lassen. „Es wir schon irgendwie weitergehen“, sagt der ältere Geschäftsmann und schaut auf den mit Staub bedeckten Boden. In der Türkei und in Syrien wurden bislang mehr als 54.300 Tote geborgen und mehr als 111.000 Verletzte registriert.

Die Aufräumarbeiten laufen auf Hochtouren. Überall sind Abbruchbagger zu sehen – und Trümmerberge. Eingestürzte und mit Rissen durchzogene Gebäude werden abgetragen. So schnell es geht. Die Menschen, die einmal in den schwer zerstörten Stadtteilen wohnten, sind entweder tot, zu Verwandten geflüchtet – oder sie leben in eilig aufgebauten Zeltstädten. Mit Spenden aus dem Weserbergland waren schon kurz nach den Todesbeben die ersten Interhelp-Familienzelte gekauft und in Kahramamaras aufgestellt worden. „Wir haben sie in Ankara anfertigen lassen. Das spart Geld“, erklärt Ulrich Behmann, Vorsitzender von Interhelp – Deutsche Gesellschaft für internationale Hilfe. „Wenn wir vor Ort Hilfsgüter einkaufen, unterstützen wir gleichzeitig die lokale Wirtschaft und müssen nicht viel Geld für den Transport ausgeben.“ Zudem seien die Zelte und Care-Pakete schneller am Ort des Geschehens. Lediglich Hilfsgüter, die in der Türkei nicht erhältlich seien, würden aus Deutschland eingeflogen.

Die umfangreichen Hilfsaktionen für die Überlebenden des Erdbebens führt Interhelp in Kooperation mit dem Generalkonsulat der Republik Türkei in Hannover durch. Die Zusammenarbeit hat sich bewährt, sagt Behmann. Er sei sehr dankbar, dass er Generalkonsulin Gül Özge Kaya und Vizekonsulin Ezgi Ertan Bayram zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen könne, um rasch Lösungen zu finden. Auch Turkish Airlines unterstütze Interhelp. „Unsere Helfer werden kostenlos ins Katastrophengebiet geflogen“, sagt Behmann. Die Fluggesellschaft habe zudem fast sechs Tonnen Interhelp-Hilfsgüter in die Türkei gebracht – ohne die Flugkosten in Rechnung zu stellen.

Gerade jetzt, zu Beginn des Ramadan und der Zeit des Fastenbrechens sei es sehr wichtig, die Überlebenden mit Nahrungsmitteln zu versorgen, sagt die Interhelp-Türkei-Koordinatorin Nevin Savas aus Bad Pyrmont. Ihr Bruder Yilmaz Savas, der ebenfalls in der Kurstadt wohnt, war extra vorab auf eigene Kosten in die Türkei gereist, um dort Care-Pakete einzukaufen. Jeder Karton wiegt mehr als 12 Kilogramm. Darin befindet sich alles, was eine Familie für eine gewisse Zeit zum Überleben braucht: Reis, rote Linsen, weiße Bohnen, Nudeln, Grieß, Mehl, Tee, Oliven, Tomatenmark, Öl, Zucker, Salz, Weizengrütze und vieles mehr.

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„Es war gar nicht so einfach, in den nicht zerstörten Teilen der Türkei Firmen zu finden, die diese Pakete in großer Stückzahl liefern konnten“, sagt Yilmaz Savas. Schließlich habe man gute Qualität zu einem fairen Preis kaufen können. Die Lebensmittel-Pakete wurden in Ünye am Schwarzen Meer und in Mersin am Mittelmeer gepackt und mit einem 40-Tonnen-Lastzug ins Katastrophengebiet gebracht. Interhelper Yilmaz Savas hat den Hilfstransport begleitet. „Wir waren zehn Stunden unterwegs, haben in dieser Zeit 700 Kilometer zurückgelegt.“ Koordiniert vom Chef der Stiftung für soziale Hilfen und Solidarität des Familien- und Sozialministeriums, Mehmet Akif Karadas, und eskortiert von der Gendarmerie wurden die Überlebensrationen von Interhelp-Mitgliedern an Notleidende verteilt. „Wir sind mit dem Sattelzug in die Dörfer Yesilyurt, Selimiye und Haci Mustafa gefahren“, erzählt Ulrich Behmann. „Die Verteilung der Hilfsgüter war gut vorbereitet worden. Die jeweiligen Ortsvorsteher hatten vor unserer Ankunft gemeinsam mit Vertretern der Katastrophenschutzbehörde AFAD Listen mit Namen von Erdbebenopfern erstellt. Wer aufgerufen wurde, konnte sich bei uns ein Paket abholen.“ Hinter dem knapp 20 Meter langen Lastzug bildete sich rasch eine Menschentraube – die Überlebenden, darunter viele Alte und Kinder, warteten ruhig und diszipliniert darauf, dass der Ortsvorsteher ihre Namen aufrief. „Den Ausdruck ihrer Gesichter werde ich nicht vergessen. Die Menschen haben nicht gelächelt, als sie sich bei uns für die Hilfe bedankten – sie sahen 40 Tage nach dem Erdbeben immer noch traurig und geschockt aus“, erzählt Interhelp-Mitglied Leonhard M. Behmann aus Bückeburg. Cem Ipek aus Rinteln machte Kinder froh, indem er Schokolade kaufte und die Tafeln unter den wartenden Mädchen und Jungen verteilte.

Immer neue Erdbeben erschweren humanitäre Arbeit

Es sei nicht ungefährlich gewesen, ins Katastrophengebiet zu fahren, erzählt Yilmaz Savas. Immer noch bebe dort täglich die Erde. „Es war kurz vor 4 Uhr morgens, als wir uns der Stadt Kahramanmaras näherten. Plötzlich gab es einen heftigen Erdstoß. Die Straße vor uns hob sich plötzlich an und senkte sich dann wieder. Das Begleitfahrzeug, in dem ich saß, wäre um ein Haar in den Gegenverkehr katapultiert worden. Um 8.20 Uhr folgte schon das nächste Beben. Pro Tag werden zwischen 200 und 300 Erdbeben registriert – einige sind stärker als 4 auf der Richter-Skala. Die jüngsten Lebensmittelrationen konnten mit Geldspenden der Rotary Clubs Bad Pyrmont und Minden-Bad Oeynhausen, von Inner Wheel Minden-Bad Oeynhausen, der Mitarbeiter des Unternehmens Meiller Kipper aus München und mit zahlreichen Einzelspenden aus dem Weserbergland gekauft werden. „Dafür sind wir sehr, sehr dankbar, denn ohne diese Spenden könnten wir den Erdbebenopfern nicht helfen“, sagt Interhelp-Vorstandsmitglied Alexander Fürst zu Schaumburg-Lippe. Jeder Euro zähle.

Die Schicksale der Menschen in den Erdbebengebieten berühre sie sehr, sagt die Onkologin Dr. Özlem Stange-Budumlu, die in Bückeburg und Stadthagen praktiziert. Die Interhelperin ist froh, dass sie in Kahramamaras einen kleinen Beitrag zur Linderung der Not leisten konnte. „Meine Eltern stammen aus Gaziantep. Auch in dieser Stadt haben die Erdbeben schwere Zerstörungen angerichtet“, erzählt die Ärztin. „Wenn man das Elend mit eigenen Augen gesehen hat und die Gewissheit hat, dass keine Verwandten gestorben sind, wird einem klar, wie gut es einem geht und wie klein unsere Sorgen doch sind.“ Sie werde weiter Spenden sammeln und alles in ihrer Macht Stehende tun, um Menschen in Not zu helfen, sagt sie. Die Bilder von Not, Elend und Zerstörung werde sie niemals vergessen können, sagt sie. „Sie haben sich eingebrannt in mein Gehirn.“

Wer Interhelp mit Geldspenden unterstützen möchte – hier sind die Spendenkonten:

IBAN DE32 2545 0110 0000 0332 33 (Sparkasse Hameln-Weserbergland)
IBAN DE49 2546 2160 0700 7000 00 (Volksbank Hameln-Stadthagen)

Internet: www.interhelp.info

(pr/Fotos: Interhelp)

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